Mittwoch, 13. April 2016

2016_03_23 Siyana und Walid



Idomeni

Beim Frühstück treffe ich Siyana Shaffi aus London. Siyana ist Ärztin, 45 Jahre jung und kommt aus London. Ihre Mutter stammte aus Sri Lanka und kam nach Großbrittannien. Dort wuchs Siyana auf und bekam die Chance Medizin studieren. Großartig ist, dass Siyana auch arabisch spricht. In Idomeni ist diese geniale Frau, die eine unendliche Ruhe und Güte ausstrahlt, mit der Hilfsorganisation NHS (Care Records Service). Siyana arbeitete vor Idomeni auf der Insel Lesbos, wo sie die frisch angekommenen Flüchtlinge medizinisch versorgte.
In und um Idomeni ist sie mit der »Yellow Ambulance« im Einsatz. Die »Yellow Ambulance« ist ein Krankenwagen aus Schweden. Ein internationales Team, bestehend aus freiwilligen Helfern, arbeitet dort Hand in Hand. Ich werde noch alle Mitarbeiter kennenlernen, denn Siyana lädt mich ein, das medizinische Team zu begleiten. Mit dabei ist auch Siyanas Tochter, die 19-jährige Layla.  

Der Tag ist trüb und immer wieder regnet und windet es. Der Treffpunkt ist im »Parkhotel« in Polykastro. Costa, der Inhaber, stellte das komplette Hotel für die freiwilligen Helfer und Journalisten als Knotenpunkt zur Verfügung. Die Zimmer sind prinzipiell ausgebucht. Aber es gibt die Möglichkeit zu duschen. Das ist super, denn viele Volunteers übernachten selbst in Zelten oder auch in einem ausrangierten mehr brüchigen Hotel in der Nähe. Eigenhygiene ist auch nicht ohne. Im Gästeraum tummeln sich alle. Handys und Laptops werden aufgeladen, Journalisten und Fotografen kleben konzentriert hinter ihren Monitoren und vergessen bei ihrer Arbeit die Welt um sich herum. Vor dem Hotel schnippeln Volunteers Gemüse und Kartoffeln für eine gewaltige Menge an Suppe, welche in Idomeni an die Flüchtlinge ausgegeben wird. Zudem werden täglich tausende von Broten belegt und abgepackt.
Auf der anderen Seite wurde ein Lager für die angelieferten Klamotten, Schuhe, Lebens- und Hygienemittel angelegt. Volunteers sortieren dort die neu gelieferte Kleidung. »Schau mal, Highheels«, sagt ein Slowene und ärgert sich über die gelieferte Fracht. Eine ganze Kiste voller unnützer Klamotten wurde wieder angeliefert. Die Spender sollten nicht nur alte Kleidung entsorgen, um ihren Krempel los zu werden, sondern sich Gedanken machen, was ein Flüchtling tatsächlich braucht. Sicher kein silbernes Netz-Shirt. Das passt eher für einen Second Hand Shop im westlichen Europa.    

Siyana trifft sich unter dem Vordach mit dem medizinischen Team. Die Besetzung der »Yellow Ambulance« wechselt ständig. Jeder bleibt immer nur so lange, wie er zeitlich kann. Wichtig sind daher die Besprechungen vor den Einsätzen. Dazwischen gibt es ständig Angebote, um die Hilfe selbst seelisch zu verkraften. Wer steht denn personell zur Verfügung? Ich lerne einen Teil des Teams, bestehend aus Krankenschwestern, Rettungssanitätern, Medizinstudenten, vier Ärzten und Übersetzern, kennen.
Thor kommt aus Dänemark, ist Krankenpfleger, 28 Jahre alt und war zuvor in der Türkei. Drei Wochen wird er in Griechenland bleiben können.
Ali ist 31 Jahre alt und Arzt aus Norwegen. Aufgrund seiner Wurzeln spricht auch arabisch. Das ist super bei der Ermittlung der unterschiedlichen Krankheiten. 
Ein Arzt kommt aus den USA. Gerne hätte ich mehr von ihm erfahren, aber die Gespräche gehen gleich weiter. »Welche Medikamente setzt ihr in den USA bei den entsprechenden Krankheiten ein?«, fragt Siyana neugierig. 
Daneben steht Vera, eine Krankenschwester aus Norwegen.
Bermi ist 22 Jahre und sonst im Ambulance Service in Katalonien aktiv.
Mary kommt aus Scotland, sie ist Krankenschwester. Maria ist aus Dänemark, eine andere medizinische Kraft kommt aus Irland. Weitere Helfer des Medical Teams versammeln sich um einen Tisch. Es wird beschlossen, dass der Einsatz an der EKO Station ist.

Ein Notfallkoffer und eine Bestandsliste werden ausgepackt, geprüft und erklärt. Was braucht man? Was fehlt? Was wird an Babies, Kinder, Erwachsene, Senioren ausgegeben? Bitte Vorsicht beim Umgang mit dem Sauerstoff. Hoffentlich muss man das Beatmungsgerät nie einsetzen. Die Behandlung der Patienten muss dokumentiert werden. Wer wurde wann und wie behandelt. Während der Besprechung rückt eine Demonstration auf der Straße an. Die Flüchtlinge geben ihr Mitgefühl für den Anschlag in Brüssel bekannt. »Open the border« ist auf den Schildern zu lesen oder einfach »I want to go to my Daddy«. Regen setzt ein. »Die Kinder unter den Flüchtlingen werden nass«, sagt Siyana und befürchtet schon kommende Erkältungskrankheiten. Eine große Kiste mit Medikamenten ist per Post angekommen. Was für ein Segen.    
Das Medical Team ist vorbereitet und fährt los. Aufgrund des Staus ist allerdings die Autobahn nicht befahrbar. Einige Flüchtlinge haben Zelte auf beiden Fahrbahnen aufgestellt und sie protestieren mit Plakaten. Besonders die Trucker sind wütend darüber. Die Polizei lässt nach Anweisung von oben die Flüchtlinge demonstrieren und greift nicht ein. »Wäre so etwas in Deutschland möglich?«, fragt mich ein Polizeibeamter genervt. Ich denke nicht. Wobei ich hoffe, dass Deutschland die Menschen auch einfach aufnehmen würde. Nach einer Weile spüren wir einen Schleichweg auf, der tatsächlich an der EKO-Station endet.  

EKO ist eine Tankstelle an der Autobahn. Herum campen rund 1400 Flüchtlinge. Die Tankstelle ist auf dieser Straßenseite deshalb lahmgelegt. Das Gute an der EKO-Station ist, dass dort wenigstens Duschen sind. Sogar die Toiletten sind in einem verhältnismäßig guten Zustand, Wasser ist in erreichbarer Nähe. Später erkläre ich noch genauer, wie die Menschen an der EKO leben und woher sie kommen.

Der knallgelbe Wagen der »Yellow Ambulance« parkt hinter dem Gebäude. Heck- und Seitenklappe ist kaum geöffnet, da bildet sich bereits eine Menschenschlange. Die Flüchtlinge sind schlicht krank und erschöpft. Zahnschmerzen sind ein häufiges Problem, aber im Moment gibt es keinen Dentist. Nasenbluten, Diabetes, Periodenschmerzen und Erkältungskrankheiten wechseln mit einem gebrochenen Arm (vom Versuch nach Mazedonien zu fliehen) und vielen schwangeren Frauen. Fieber wird gemessen. Ein Mann im Rollstuhl hat zwei Kinder auf dem Schoß. Der Vater ist aus dem Krieg querschnittsgelähmt, tatsächlich geht es aber um seine Kinder. Ein kleiner Junge braucht dringend eine Bluttransfusion und muss dazu ins Krankenhaus. Eine Frau erwartet ihr Baby noch heute. Auch sie soll ins Krankenhaus dürfen. Spätestens drei Tage nach der Entbindung wird sie mit dem Säugling zurück im nassen Zelt übernachten müssen. Der Wind pfeift scharf und klirrend um die EKO-Station. Die zusätzlichen Planen wehen mit jedem Windstoß. Steine beschweren die Planen, Seile versuchen Halt zu geben, ich höre Kinder weinen. Beim jüngsten Sturm wurden drei Zelte weggerissen. Pech hat, wer kein Zelt mehr hat und ganz im Freien schlafen muss. Glück hat eine vierköpfige Familie. Der Vater erklärt mir, dass er einen alten ausrangierten VW-Bus bewohnt. Darin ist es wenigstens trocken. Ich treffe Rezan, der verschwitzt und mit glühender Stirn in der Schlange steht. Der junge Mann ist 25 Jahre und hat Englisch auf Lehramt studiert – bis der Krieg kam und alles lahm legte. Ein Mädchen bekommt ein Nasenspray. Ich beobachte, wie Siyana einer Frau Mitte 40 etwas Heilsalbe in ein Plastiktütchen abfüllt.    

Ich streife durch das Lager. Um die Zapfsäulen lagern bereits die Igluzelte. Nur ein grauer Wollteppich, doppelt gelegt, bietet Schutz zur Erde oder dem Steinboden hin. Warm wird es unter diesen Verhältnissen nie. Weiter hinten spielt eine Gruppe Volunteers von »Save the children« mit den Kindern Seilspringen. Endlich Kinderlachen zu hören ist toll.

Ein Mann stochert mit einem Stock in einer alten Blechtonne herum. Ein Feuer brennt darin. Ich grüße ihn mit »Salam aeleikum« und er erwidert den Gruß mit freundlichem Gesicht. Kartoffeln liegen im Feuer. Schau, eine Kartoffel sieht ja aus wie ein Herz, sage ich zu ihm. Flammen lodern um die »Patata« herum, die Familie hat Hunger. Einen Kochtopf gibt es nicht. »What’s your name?«, frage ich, mit der Hoffnung, dass der Mann englisch spricht. Und ob. Walid ist sogar Englischlehrer. Wir kommen ins Gespräch und schließen später sogar Freundschaft. Walid erzählt mir seine Geschichte.

Bis Februar lebte er mit seiner Familie in Aleppo, führte mit Haus, Garten, Bäume, Swimmingpool und Auto ein normales Leben. Seine Frau war zu diesem Zeitpunkt im sechsten Monat schwanger. Tochter Lilly und Söhnchen Hamid hielten alle auf Trab. Walid unterrichtete in der Schule, fuhr ein Auto, führte trotz des tobenden Krieges ein halbwegs normales Leben. Das änderte sich rapide. Eines Morgens wurde sein Haus zerbombt. Es grenzt an ein Wunder, dass alle lebend aus der Ruine heraus kamen. Mit auf die Flucht gingen auch die Schwester seiner Frau mit ihren Kindern. Ihr Mann hat es bereits bis Deutschland geschafft, doch der Familiennachzug dauert. Zudem sind die Schwiegereltern dabei. Der Schwiegervater ist ein gelernter Schneider, die Schwiegermutter Hausfrau.  
Nach der unglaublich harten Flucht und der Fahrt im wackeligen Boot in der Ägäis, ist Walid mit seiner Familie an der EKO-Station gestrandet. 200 Kilometer lief die Familie zu Fuß bis nach Izmir. 600 Euro pro Person kostete die Überfahrt für die wenigen Kilometer auf dem Meer nach Mytilene/Lesbos. 55 Leute saßen im Boot, zweieinhalb Stunden dauerte die Überfahrt. »Ich war geschockt. Niemand kümmerte sich um uns. Wir waren allen egal. Dabei hatte ich auf menschlichen Respekt gehofft«, sagt Walid betrübt. Er bewohnt jetzt ein Zelt der UNHCR.
Über 50000 Menschen werden gerade schlicht vergessen. Aber über Aufschreie empört man sich. Wo bitte sollen sie denn hin? Die Hoffnungslosigkeit ist zum Schreien. »Das ist Terrorismus was hier an der Grenze mit uns passiert«, klagt Walid enttäuscht an. Dann fügt er etwas an, das mich erschauern lässt. Walid: »Nachts kann ich vor lauter Sorgen nicht schlafen. Dann denke ich, es wäre besser gewesen, wenn meine Familie in Syrien gestorben wäre oder vielleicht in der Ägäis ertrunken«. Walids Blick geht zu den Kartoffeln, die sich im Feuer schwarz gefärbt haben. Von einem anderen Lagerfeuer zieht eine Rauchwolke aus Plastik herüber. Töchterchen Lilly hüpft mit einem Spielzeug in der Hand daher, einem Geschenk. Walid erklärt vom Leben an der EKO-Station: »Wir laufen Autos hinterher und betteln, um genug Essen zu bekommen. Wir stehen in Linien an, um eine Suppe abzubekommen. Das ist kein Leben. Wir wollen doch nur vom Krieg davonlaufen. Wir sind Menschen. Bin ich etwa ein Terrorist?«. Es dreht sich alles nur um das Geld. Jetzt soll die Türkei sechs Milliarden Euro bekommen. Kommt das Geld bei den Flüchtlingen auch an? Freunde in der Türkei haben bisher nichts bekommen.
Der Rauch beißt in den Augen, aber auch ohne den Rauch schießen Walid die Tränen in die Augen. Seine Frau ist mittlerweile im siebten Monat schwanger. Das Baby hat sich gesenkt und die werdende Mutter hat ständig Schmerzen. Der Säugling kann jederzeit geboren werden, sagt der Arzt. Die Sorge, das Kind zu verlieren, belastet enorm. Die Vorstellung mit Säugling in einem Zelt zu leben, ist nicht prickelnd.
Walid stupft in eine Kartoffel und holt sie so aus dem Feuer. Er legt sie in einen alten Jogurtbehälter. »Ich habe mich geschämt, meinen Freunden zu sagen, dass es uns nicht gut geht. Ich habe erzählt, dass wir in Deutschland an einem sicheren Ort sind«, gesteht Walid. Tochter Lilly erzählte der Vater, dass sie auf dem Trip in ein gutes Land sind und einen wunderschönen Garten sehen werden. Er kann ihr die Wahrheit nicht sagen. Aber ständig fragt Lilly, wann sie endlich den Garten erreichen.
Sein Vater und der Bruder leben derweil noch mitten in den Trümmern seines zerstörten Hauses. Jederzeit kann eine weitere Bombe sie töten.

Mich bewegt die Geschichte von Walid und seiner Familie tief.
Am nächsten Morgen mache ich mich früh auf, gehe im Lidl für 150 Euro hauptsächlich haltbare Lebensmittel einkaufen. Teils ermöglichen das Spenden, teils bezahle ich es aus eigener Tasche. In einem größeren Kaufhaus sehe ich einen großen Topf für 30 Euro. Der ist genau richtig. Ich finde noch einige nutzvolle Dinge. Ich hatte davor gefragt, ob ich Walid wieder besuchen darf. Natürlich.
Ich fahre an die EKO-Station und vor sein Zelt, da ist mein Fiesta von bestimmt 20 Flüchtlingen umlagert. Ich kann nicht allen etwas geben. Verdammt.

Nach einer halben Stunde und einem Kaffee von Walid, sage ich ihm, dass ich etwas dabei habe. Wir packen drei große Kisten mit Lebensmitteln aus. Am Ende krame ich den Topf vom Fußraum des Beifahrersitzes aus und bringe ihn zügig ins Zelt. Dort stehe ich und Walid und seine Frau brechen über die Gaben in Tränen aus…

Am nächsten Tag muss ich nochmal bei Walid vorbei schauen.

Fortsetzung und Bilder folgen.