Idomeni
Beim Frühstück treffe ich Siyana Shaffi aus London.
Siyana ist Ärztin, 45 Jahre jung und kommt aus London. Ihre Mutter stammte aus
Sri Lanka und kam nach Großbrittannien. Dort wuchs Siyana auf und bekam die
Chance Medizin studieren. Großartig ist, dass Siyana auch arabisch spricht. In
Idomeni ist diese geniale Frau, die eine unendliche Ruhe und Güte ausstrahlt,
mit der Hilfsorganisation NHS (Care Records Service). Siyana arbeitete vor
Idomeni auf der Insel Lesbos, wo sie die frisch angekommenen Flüchtlinge
medizinisch versorgte.
In und um Idomeni ist sie mit der »Yellow Ambulance« im
Einsatz. Die »Yellow Ambulance« ist ein Krankenwagen aus Schweden. Ein
internationales Team, bestehend aus freiwilligen Helfern, arbeitet dort Hand in
Hand. Ich werde noch alle Mitarbeiter kennenlernen, denn Siyana lädt mich ein,
das medizinische Team zu begleiten. Mit dabei ist auch Siyanas Tochter, die
19-jährige Layla.
Der Tag ist trüb und immer wieder regnet und windet es.
Der Treffpunkt ist im »Parkhotel« in Polykastro. Costa, der Inhaber, stellte
das komplette Hotel für die freiwilligen Helfer und Journalisten als
Knotenpunkt zur Verfügung. Die Zimmer sind prinzipiell ausgebucht. Aber es gibt
die Möglichkeit zu duschen. Das ist super, denn viele Volunteers übernachten
selbst in Zelten oder auch in einem ausrangierten mehr brüchigen Hotel in der
Nähe. Eigenhygiene ist auch nicht ohne. Im Gästeraum tummeln sich alle. Handys
und Laptops werden aufgeladen, Journalisten und Fotografen kleben konzentriert
hinter ihren Monitoren und vergessen bei ihrer Arbeit die Welt um sich herum.
Vor dem Hotel schnippeln Volunteers Gemüse und Kartoffeln für eine gewaltige
Menge an Suppe, welche in Idomeni an die Flüchtlinge ausgegeben wird. Zudem
werden täglich tausende von Broten belegt und abgepackt.
Auf der anderen Seite wurde ein Lager für die
angelieferten Klamotten, Schuhe, Lebens- und Hygienemittel angelegt. Volunteers
sortieren dort die neu gelieferte Kleidung. »Schau mal, Highheels«, sagt ein
Slowene und ärgert sich über die gelieferte Fracht. Eine ganze Kiste voller
unnützer Klamotten wurde wieder angeliefert. Die Spender sollten nicht nur alte
Kleidung entsorgen, um ihren Krempel los zu werden, sondern sich Gedanken
machen, was ein Flüchtling tatsächlich braucht. Sicher kein silbernes
Netz-Shirt. Das passt eher für einen Second Hand Shop im westlichen Europa.
Siyana trifft sich unter dem Vordach mit dem
medizinischen Team. Die Besetzung der »Yellow Ambulance« wechselt ständig.
Jeder bleibt immer nur so lange, wie er zeitlich kann. Wichtig sind daher die
Besprechungen vor den Einsätzen. Dazwischen gibt es ständig Angebote, um die
Hilfe selbst seelisch zu verkraften. Wer steht denn personell zur Verfügung?
Ich lerne einen Teil des Teams, bestehend aus Krankenschwestern, Rettungssanitätern,
Medizinstudenten, vier Ärzten und Übersetzern, kennen.
Thor kommt aus Dänemark, ist Krankenpfleger, 28 Jahre alt
und war zuvor in der Türkei. Drei Wochen wird er in Griechenland bleiben
können.
Ali ist 31 Jahre alt und Arzt aus Norwegen. Aufgrund
seiner Wurzeln spricht auch arabisch. Das ist super bei der Ermittlung der
unterschiedlichen Krankheiten.
Ein Arzt kommt aus den USA. Gerne hätte ich mehr von ihm
erfahren, aber die Gespräche gehen gleich weiter. »Welche Medikamente setzt ihr
in den USA bei den entsprechenden Krankheiten ein?«, fragt Siyana
neugierig.
Daneben steht Vera, eine Krankenschwester aus Norwegen.
Bermi ist 22 Jahre und sonst im Ambulance Service in
Katalonien aktiv.
Mary kommt aus Scotland, sie ist Krankenschwester. Maria
ist aus Dänemark, eine andere medizinische Kraft kommt aus Irland. Weitere
Helfer des Medical Teams versammeln sich um einen Tisch. Es wird beschlossen,
dass der Einsatz an der EKO Station ist.
Ein Notfallkoffer und eine Bestandsliste werden
ausgepackt, geprüft und erklärt. Was braucht man? Was fehlt? Was wird an
Babies, Kinder, Erwachsene, Senioren ausgegeben? Bitte Vorsicht beim Umgang mit
dem Sauerstoff. Hoffentlich muss man das Beatmungsgerät nie einsetzen. Die
Behandlung der Patienten muss dokumentiert werden. Wer wurde wann und wie
behandelt. Während der Besprechung rückt eine Demonstration auf der Straße an.
Die Flüchtlinge geben ihr Mitgefühl für den Anschlag in Brüssel bekannt. »Open
the border« ist auf den Schildern zu lesen oder einfach »I want to go to my
Daddy«. Regen setzt ein. »Die Kinder unter den Flüchtlingen werden nass«, sagt
Siyana und befürchtet schon kommende Erkältungskrankheiten. Eine große Kiste
mit Medikamenten ist per Post angekommen. Was für ein Segen.
Das Medical Team ist vorbereitet und fährt los. Aufgrund
des Staus ist allerdings die Autobahn nicht befahrbar. Einige Flüchtlinge haben
Zelte auf beiden Fahrbahnen aufgestellt und sie protestieren mit Plakaten.
Besonders die Trucker sind wütend darüber. Die Polizei lässt nach Anweisung von
oben die Flüchtlinge demonstrieren und greift nicht ein. »Wäre so etwas in
Deutschland möglich?«, fragt mich ein Polizeibeamter genervt. Ich denke nicht.
Wobei ich hoffe, dass Deutschland die Menschen auch einfach aufnehmen würde.
Nach einer Weile spüren wir einen Schleichweg auf, der tatsächlich an der
EKO-Station endet.
EKO ist eine Tankstelle an der Autobahn. Herum campen
rund 1400 Flüchtlinge. Die Tankstelle ist auf dieser Straßenseite deshalb
lahmgelegt. Das Gute an der EKO-Station ist, dass dort wenigstens Duschen sind.
Sogar die Toiletten sind in einem verhältnismäßig guten Zustand, Wasser ist in
erreichbarer Nähe. Später erkläre ich noch genauer, wie die Menschen an der EKO
leben und woher sie kommen.
Der knallgelbe Wagen der »Yellow Ambulance« parkt hinter
dem Gebäude. Heck- und Seitenklappe ist kaum geöffnet, da bildet sich bereits
eine Menschenschlange. Die Flüchtlinge sind schlicht krank und erschöpft.
Zahnschmerzen sind ein häufiges Problem, aber im Moment gibt es keinen Dentist.
Nasenbluten, Diabetes, Periodenschmerzen und Erkältungskrankheiten wechseln mit
einem gebrochenen Arm (vom Versuch nach Mazedonien zu fliehen) und vielen
schwangeren Frauen. Fieber wird gemessen. Ein Mann im Rollstuhl hat zwei Kinder
auf dem Schoß. Der Vater ist aus dem Krieg querschnittsgelähmt, tatsächlich
geht es aber um seine Kinder. Ein kleiner Junge braucht dringend eine
Bluttransfusion und muss dazu ins Krankenhaus. Eine Frau erwartet ihr Baby noch
heute. Auch sie soll ins Krankenhaus dürfen. Spätestens drei Tage nach der
Entbindung wird sie mit dem Säugling zurück im nassen Zelt übernachten müssen. Der
Wind pfeift scharf und klirrend um die EKO-Station. Die zusätzlichen Planen
wehen mit jedem Windstoß. Steine beschweren die Planen, Seile versuchen Halt zu
geben, ich höre Kinder weinen. Beim jüngsten Sturm wurden drei Zelte weggerissen.
Pech hat, wer kein Zelt mehr hat und ganz im Freien schlafen muss. Glück hat
eine vierköpfige Familie. Der Vater erklärt mir, dass er einen alten ausrangierten
VW-Bus bewohnt. Darin ist es wenigstens trocken. Ich treffe Rezan, der verschwitzt
und mit glühender Stirn in der Schlange steht. Der junge Mann ist 25 Jahre und
hat Englisch auf Lehramt studiert – bis der Krieg kam und alles lahm legte. Ein
Mädchen bekommt ein Nasenspray. Ich beobachte, wie Siyana einer Frau Mitte 40 etwas
Heilsalbe in ein Plastiktütchen abfüllt.
Ich streife durch das Lager. Um die Zapfsäulen lagern
bereits die Igluzelte. Nur ein grauer Wollteppich, doppelt gelegt, bietet Schutz
zur Erde oder dem Steinboden hin. Warm wird es unter diesen Verhältnissen nie. Weiter
hinten spielt eine Gruppe Volunteers von »Save the children« mit den Kindern
Seilspringen. Endlich Kinderlachen zu hören ist toll.
Ein Mann stochert mit einem Stock in einer alten
Blechtonne herum. Ein Feuer brennt darin. Ich grüße ihn mit »Salam aeleikum« und
er erwidert den Gruß mit freundlichem Gesicht. Kartoffeln liegen im Feuer.
Schau, eine Kartoffel sieht ja aus wie ein Herz, sage ich zu ihm. Flammen
lodern um die »Patata« herum, die Familie hat Hunger. Einen Kochtopf gibt es
nicht. »What’s your name?«, frage ich, mit der Hoffnung, dass der Mann englisch
spricht. Und ob. Walid ist sogar Englischlehrer. Wir kommen ins Gespräch und
schließen später sogar Freundschaft. Walid erzählt mir seine Geschichte.
Bis Februar lebte er mit seiner Familie in Aleppo, führte
mit Haus, Garten, Bäume, Swimmingpool und Auto ein normales Leben. Seine Frau
war zu diesem Zeitpunkt im sechsten Monat schwanger. Tochter Lilly und Söhnchen
Hamid hielten alle auf Trab. Walid unterrichtete in der Schule, fuhr ein Auto,
führte trotz des tobenden Krieges ein halbwegs normales Leben. Das änderte sich
rapide. Eines Morgens wurde sein Haus zerbombt. Es grenzt an ein Wunder, dass
alle lebend aus der Ruine heraus kamen. Mit auf die Flucht gingen auch die
Schwester seiner Frau mit ihren Kindern. Ihr Mann hat es bereits bis
Deutschland geschafft, doch der Familiennachzug dauert. Zudem sind die
Schwiegereltern dabei. Der Schwiegervater ist ein gelernter Schneider, die Schwiegermutter
Hausfrau.
Nach der unglaublich harten Flucht und der Fahrt im
wackeligen Boot in der Ägäis, ist Walid mit seiner Familie an der EKO-Station
gestrandet. 200 Kilometer lief die Familie zu Fuß bis nach Izmir. 600 Euro pro
Person kostete die Überfahrt für die wenigen Kilometer auf dem Meer nach Mytilene/Lesbos.
55 Leute saßen im Boot, zweieinhalb Stunden dauerte die Überfahrt. »Ich war
geschockt. Niemand kümmerte sich um uns. Wir waren allen egal. Dabei hatte ich auf
menschlichen Respekt gehofft«, sagt Walid betrübt. Er bewohnt jetzt ein Zelt
der UNHCR.
Über 50000 Menschen werden gerade schlicht vergessen. Aber
über Aufschreie empört man sich. Wo bitte sollen sie denn hin? Die
Hoffnungslosigkeit ist zum Schreien. »Das ist Terrorismus was hier an der
Grenze mit uns passiert«, klagt Walid enttäuscht an. Dann fügt er etwas an, das
mich erschauern lässt. Walid: »Nachts kann ich vor lauter Sorgen nicht
schlafen. Dann denke ich, es wäre besser gewesen, wenn meine Familie in Syrien
gestorben wäre oder vielleicht in der Ägäis ertrunken«. Walids Blick geht zu
den Kartoffeln, die sich im Feuer schwarz gefärbt haben. Von einem anderen
Lagerfeuer zieht eine Rauchwolke aus Plastik herüber. Töchterchen Lilly hüpft mit
einem Spielzeug in der Hand daher, einem Geschenk. Walid erklärt vom Leben an
der EKO-Station: »Wir laufen Autos hinterher und betteln, um genug Essen zu
bekommen. Wir stehen in Linien an, um eine Suppe abzubekommen. Das ist kein
Leben. Wir wollen doch nur vom Krieg davonlaufen. Wir sind Menschen. Bin ich
etwa ein Terrorist?«. Es dreht sich alles nur um das Geld. Jetzt soll die
Türkei sechs Milliarden Euro bekommen. Kommt das Geld bei den Flüchtlingen auch
an? Freunde in der Türkei haben bisher nichts bekommen.
Der Rauch beißt in den Augen, aber auch ohne den Rauch
schießen Walid die Tränen in die Augen. Seine Frau ist mittlerweile im siebten
Monat schwanger. Das Baby hat sich gesenkt und die werdende Mutter hat ständig
Schmerzen. Der Säugling kann jederzeit geboren werden, sagt der Arzt. Die Sorge,
das Kind zu verlieren, belastet enorm. Die Vorstellung mit Säugling in einem
Zelt zu leben, ist nicht prickelnd.
Walid stupft in eine Kartoffel und holt sie so aus dem
Feuer. Er legt sie in einen alten Jogurtbehälter. »Ich habe mich geschämt,
meinen Freunden zu sagen, dass es uns nicht gut geht. Ich habe erzählt, dass
wir in Deutschland an einem sicheren Ort sind«, gesteht Walid. Tochter Lilly
erzählte der Vater, dass sie auf dem Trip in ein gutes Land sind und einen
wunderschönen Garten sehen werden. Er kann ihr die Wahrheit nicht sagen. Aber
ständig fragt Lilly, wann sie endlich den Garten erreichen.
Sein Vater und der Bruder leben derweil noch mitten in
den Trümmern seines zerstörten Hauses. Jederzeit kann eine weitere Bombe sie
töten.
Mich bewegt die Geschichte von Walid und seiner Familie
tief.
Am nächsten Morgen mache ich mich früh auf, gehe im Lidl für
150 Euro hauptsächlich haltbare Lebensmittel einkaufen. Teils ermöglichen das
Spenden, teils bezahle ich es aus eigener Tasche. In einem größeren Kaufhaus
sehe ich einen großen Topf für 30 Euro. Der ist genau richtig. Ich finde noch
einige nutzvolle Dinge. Ich hatte davor gefragt, ob ich Walid wieder besuchen
darf. Natürlich.
Ich fahre an die EKO-Station und vor sein Zelt, da ist
mein Fiesta von bestimmt 20 Flüchtlingen umlagert. Ich kann nicht allen etwas
geben. Verdammt.
Nach einer halben Stunde und einem Kaffee von Walid, sage
ich ihm, dass ich etwas dabei habe. Wir packen drei große Kisten mit
Lebensmitteln aus. Am Ende krame ich den Topf vom Fußraum des Beifahrersitzes
aus und bringe ihn zügig ins Zelt. Dort stehe ich und Walid und seine Frau
brechen über die Gaben in Tränen aus…
Am nächsten Tag muss ich nochmal bei Walid vorbei
schauen.
Fortsetzung und Bilder folgen.