Samstag, 20. August 2016

2016_08_20 - Yazan's Weg: Nach Bomben, Folter, Terror und Flucht in Sicherheit


Yazan's Weg: Nach Bomben, Folter, Terror und Flucht in Sicherheit

Schenkenzell (ks). Yazan, 21 Jahre, bekommt nachts kein Auge zu. Der ehemalige Student wälzt sich von einer Seite auf die andere. Die furchtbaren Bildern aus seinen Erinnerungen rauben ihm die Nachtruhe. Brutale Bilder sind es, die wir uns im sicheren Europa gar nicht vorstellen wollen. Auf Europäer wirken Yazans Geschichten abstrakt. Deren Grausamkeit geht über unser komplettes vollkommenes Begreifen.

Regelmäßig trifft Yazan seine Patin, die ihn durch Behörden und den Alltag leitet. Erst mit der Zeit brechen bruchstückhaft Episoden aus dem jungen Syrer. Beim Geschirr abräumen. Beim Lernen neuer Vokabeln. Beim Blumen gießen. 

Geboren wurde Yazan in Zabadani, im Süden Syriens. Die Mutter ist Lehrerin. Der Vater arbeitete zu Friedenszeiten noch auf dem Gericht. Die Schwester ist ein Jahr, der Bruder fünf Jahre jünger. Zu Hause betrieb die Familie zudem eine kleine Landwirtschaft.
Wäre Yazan volljährig und bis Dezember 2015 kein Student gewesen, wäre er zur Armee von Bashar al-Al-Assad eingezogen worden. Yazan ist der ältere Bruder. Soldat zu werden ist sein Los. »Aber ich will doch nicht töten«, sagt Yazan.
Der junge Syrer schluckt und beginnt langsam und konzentriert zu erzählen – bis seine Erinnerungen sprudeln:


Der Krieg beginnt in Syrien
»Der Krieg begann am 15. März 2011 in Daraa. Ich sah und hörte den ersten Schuss als ich 15 Jahre alt war. Es war zu der Zeit, als die Soldaten al-Al-Assads den Kindern die Fingernägel mit Zangen herauszogen. Das bestürzte die Leute und die meisten in unserer Stadt Zabadani stellten sich gegen Al-Assad. Zuvor waren einige für Al-Assad, andere gegen ihn und einige wollten neutral bleiben. Zabadani hatte zu diesem Zeitpunkt 40000 Einwohner.
Es kam im Juni oder Juli 2011 zu einer Demonstration. Die fand genau unter unserem Balkon statt. Nur noch 1000 Leute waren für al-Al-Assad. Aber 39000 Menschen bäumten sich gegen den Präsidenten auf. Wir müssen doch unsere Kinder schützen. Wir wollen nicht, dass al-Assad dieselbe Grausamkeit gegenüber unseren Kindern befiehlt. Ich hatte die Leute gut verstanden, die sich gegen den Präsidenten aufbäumten.
Da wir nah an der Grenze zu Libanon leben, besitzen viele Menschen Waffen. Bei der Demonstration wurden Steine geworfen. Aber es fielen auch Schüsse«.


Zabadani 2011 
»Die Unruhen nahmen zu. In Zabadani bildete sich eine Freiarmee mit etwa 500 Männern. Al-Assad schickte bald 10000 Soldaten und 200 Panzer nach Zabadani, um seine 1000 verbliebenen Anhänger zu schützen. Schließlich kam es zu Gefechten.
Die erste Schlacht dauerte 15 Tage. Meine Familie blieb während dieser Zeit in der Stadt. Es kamen viele Helikopter die Bomben abwarfen. Erinnerst du dich, wie die Feuerwerkskörper an Silvester riechen? Genau das ist der Geruch der Bomben. Es starben so viele Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Babies und alte Leute ließen ihr Leben. Viele Verwundete habe ich gesehen, aber auch etliche erschossene und zerfetzte Menschen.
Der Laden meines Onkels wurde von einem Panzergeschoss getroffen. Die Wucht hatte seinen Körper in Stücke zerrissen. Verwandte und Freunde sammelten seine Leichenteile in Plastiksäcken zusammen, um ihn später einigermaßen würdevoll bestatten zu können.
Obwohl 10000 Soldaten mit 200 Panzern gegen die Freiarmee von 500 Männern in Zabadani gekämpft hatte, konnte er die Stadt nicht einnehmen. Der Löwe (al-Assad) ließ seine Soldaten nach Damaskus abziehen. Die 200 Panzer schickte er nach Aleppo.


Ein paar Tage danach wurde es verhältnismäßig ruhig in Zabadani. Die Leute suchten Lösungen für die Sicherheit ihrer Familien. Wir sahen aber, dass der nächste Kampf bestimmt bald wieder begann.

Die erste Flucht nach Bludan
Mein Vater sagte, dass Zabadani nicht mehr sicher genug sei. Er hatte Angst um uns. Einen Freund hatte er in Bludan. Der konnte helfen. Der Ort ist nur etwa fünf Kilometer von Zabadani entfernt.
In Zabadani war es eigentlich verboten, die Häuser zu verlassen. Meine Eltern nahmen lediglich einige Wertsachen mit. Wir flohen sehr schnell und ohne Gepäck mit dem Auto meines Vaters nach Bludan. Baba holte uns sogar aus dem Unterricht in der Schule heraus. Niemand durfte uns sehen.
Ist das nicht verrückt? Die Freiarmee wollte uns schützen und uns unter Androhung von Waffengewalt nicht gehen lassen. Ein paar der übrigen Soldaten aus al-Assads Armee wollten uns töten. Unterwegs sahen wir aber viele Familien, ebenfalls auf der Flucht. Just als wir im Auto aus der Stadt fuhren, hörten wir, wie die Kämpfe wieder begannen.
Die Fahrt nach Bludan dauert in dem bergigen Gebiet etwa zwanzig Minuten. Sein Freund buchte uns derweil ein Hotelzimmer. Für das Erste waren wir in Sicherheit. Zabadani wurde wieder von der Luft aus bombardiert. Wir hörten das genau. Unten fielen die Schüsse der Sniper (Scharfschützen). Ich hatte meinen Hund in Zabadani lassen müssen und war deswegen traurig. Ein großartiger und treuer Husky war das. Rex hieß er. Rex wollte unser Haus verteidigen und bellte die Eindringlinge aufgeregt an, erzählten mir Nachbarn. Die Soldaten erschossen ihn eiskalt.
Der Freund meines Vaters fand uns in Bludan ein Haus unter der Erde. Das bezogen wir, weil es besonders sicher schien. Auch der Bruder meines Vater und meine Großeltern lebten dort mit uns zusammen. Wir hatten insgesamt nur zwei Räume, aber kurioser Weise zwei Bäder. Mein Vater wählte dieses unterirdische Haus bewusst, um vor den Angriffen besser geschützt zu sein. Wir lebten gute drei Monate dort«.


Zabadani, Ende 2011
»Die Armee und die Freiarmee einigten sich für vier Monate auf einen Waffenstilstand. In dieser Zeit zogen wir zurück nach Zabadani. Die Stadt trug ihre Spuren, war aber bewohnbar. Wer davor eine Wohnung mit fünf Zimmern hatte, dem blieben wenigstens noch drei unzerstörte Räume. In unserem Haus war das Büro Babas ruiniert. In den restlichen Räumen waren nur Schüsse in den Wänden«.   


Zabadani, Anfang 2012 – Die Jacke des Soldaten
»Diese Geschichte ist lustig. Al-Assads Soldaten kamen in die Häuser für einen „Army Check for wanted people“. Eine Gruppe von Soldaten war gerade bei unseren Nachbarn zugange. Ihr damals 23-jähriger Sohn war ebenfalls in der Armee von al-Assad. Die Bande stürmte das Nachbarhaus und prüften die Personalausweise der Bewohner. Sie hatten ein Buch mit sich geführt. Darin konnten sie nachlesen, ob die entsprechenden Personen gesucht wurden. Einer der Soldaten kam in einen Raum der Nachbarn und durchstöberte einen Schrank. Dort fand er eine nagelneue Soldatenjacke, die für den Sohn des Hauses bestimmt war. Er stahl die Jacke, weil sie um einiges besser aussah, als seine eigene.
Nach vier Tagen kam der Nachbarssohn zurück aus der Armee. Er hatte ein paar Tage Heimaturlaub und genoss die Zeit. Als seine Urlaub zu Ende war, wollte er endlich seine neue Jacke anziehen. Er öffnete den Schrank, fand aber nur eine alte sehr schmutzige Jacke. Zuerst ärgerte er sich mächtig. Aber was blieb ihm übrig? Er brauchte eine Jacke und zog sie schließlich an. Dann griff er in die Jackentaschen. Die waren gefüllt mit Gold und wertvollem Schmuck. Die Wertsachen hatte der andere Soldat vermutlich zuvor gestohlen«.


Zabadani, Anfang 2012 – Das Krokodil
»Dieselbe Bande Soldaten kam am nächsten Tag, um unser Haus in Zabadani zu checken. Mein Vater schaute gerade TV. Meine Mutter schlief. Meine Schwester lernte Englisch in einem Privatinstitut. Mein kleiner Bruder spielte draußen Fußball mit seinen Freunden. Ich saß an meinem Computer, spielte ein Spiel.
Als erstes hörte ich meine Großmutter aus dem oberen Stockwerk. Sie schrie laut. Die Armeesoldaten von al-Assad kämen. Wir rannten auf den Balkon und wollten die Soldaten kommen sehen. Unten standen sie aber bereits an unserer Haustür. Wir sahen und hörten sie zuerst nicht. Aber sie waren offenbar in Zerstörlaune, denn sie begannen auf die Wand einzuschlagen. Danach versuchten sie die Tür zu zerstören. Sie schmetterten die Gewehrkolben auf das Türschloss, welches dabei kaputt ging.
Die Tür bekamen diese Esel trotzdem nicht auf, weil sie aus Metall war. Ein Soldat war aber darunter, den nannten wir Krokodil. Das Krokodil war riesig, hatte unglaublich viele Muskeln und kickte gegen die Tür. Vielleicht wäre Elefant oder T-Rex die bessere Bezeichnung gewesen? Mein Vater stand derweil innen, doch er konnte das Türschloss nicht mehr mit dem Schlüssel öffnen. Er schaute zum Fenster hinaus und rief zu den Soldaten: „Nehmt doch zweite Haustür. Die ist sowieso offen“.
Das idiotische Krokodil hämmerte trotzdem weiter. Am Ende blieb die Metalltür stehen – aber die ganze Wand darum brach zusammen. Unglücklicher Weise stand Baba genau in diesem Moment hinter der Tür. Die Wand brach und die Tür fiel auf Baba. Zum Glück passierte ihm nichts.
20 oder mehr Soldaten stürmten in unser Haus. Wir mussten an die Wand stehen. Sie wollten unser Haus nach Terroristen durchsuchen. Andere Soldaten nahmen uns die Personalausweise ab und mit nach draußen. Später musste mein kleiner Bruder, damals zwölf Jahre alt, nach unten gehen, um die Ausweise abzuholen. Ich glaube, sie hatten eine ganz bestimmte Person gesucht«.


Zabadani, 2012
Bomben zählen im Garten
»Unsere Familie fast komplett saß in unserem Garten. Sogar Onkel Hassan war aus dem Nachbarhaus gekommen. Die Großmutter, unsere Eltern, Onkels, Tanten, Cousinen und Cousins, darunter viele Kinder, bildeten einen lustigen Haufen. Mein Onkel rauchte mit mir gerade eine Shisha – mit „two apple-Geschmack“. Wir hielten damals auch noch Hasen und Hühner im Garten.
Panzer beschossen aus den Bergen die Stadt. Trotzdem dachten wir sicher zu sein. Wie kann man sich das Geräusch vorstellen? Zuerst hört man den Abschuss aus dem Panzer. Nach etwa zehn Sekunden folgt durch die Wucht des Geschosses die Explosion. Die Explosion hört sich natürlich wesentlich lauter an, als der Abschuss. Mein Onkel und ich begannen ein Spiel. Wenn wir einen Abschuss hörten, begannen wir bis zum Einschlag recht schnell zu zählen. Mein Onkel sagte eins, ich zwei, mein Onkel wieder drei und so weiter. Das dauerte bis zum Einschlag in der Regel bis 20. Das Spiel trieben wir bestimmt 20 oder 30 Mal. Dann hörten wir wieder einen Abschuss und wir zählten. Nach der 19 gab es im Haus meines Onkels eine mächtige Explosion.
Wir waren im ersten Moment geschockt. Dann schauten uns um, aber alle Menschen aus Onkels Haus waren in unserem Garten in Sicherheit. Plötzlich rief mein Vater: „Oh Mist, Großvater haben wir vergessen. Der ist noch im Haus deines Onkels“. Wir rannten schnell hinüber und stiegen die Treppe hoch. Dort sahen wir Großvater laufen. Er wollte aus dem Haus rennen. Normal konnte er gar nicht ohne Hilfe von anderen laufen. In diesem Moment hatte er durch die Angst jedoch einen Energieschub bekommen. Er lief alleine, wobei er sich mit beiden Händen an der Wand stützte. Wir schnappten uns Großvater und halfen ihm hinaus. Zwei Räume nebenan waren komplett zerstört worden. Sie standen in Flammen. Wir schlossen die Türen, damit sich das Feuer nicht weiter ausbreiten konnte. Kaputt waren sie jetzt ohnehin schon.
Danach hatten wir doch Angst und zogen uns in unser Haus zurück. Dort gab es einen geschützten Raum im hinteren Teil. Mit 15 oder 16 Personen saßen wir dort und warteten bis zum nächsten Tag. Die Panzer hatten ihren Beschuss jetzt auf unser Haus gerichtet. Wir wussten nicht, wann es uns treffen würde.
Die Kinder haben nicht geweint. Sie waren die Beschüsse gewohnt. Sie spielten in unserem Schutzraum auf dem Boden. Wenn etwas aus der Küche geholt werden musste, gingen nur die Männer hinaus. Frauen und Kinder blieben am sicheren Ort. Es waren drei Betten in diesem Raum. Dort legten wir alle Kinder hinein. Die Erwachsenen schliefen auf dem Boden. Wir erwachsenen Männer wechselten uns mit einer Wache ab. Mein Vater, mein Onkel und ich waren das.
Viele Leute starben nach diesen Beschüssen in Zabadani.
Die Lage wurde wieder zu unsicher. So verließen wir wieder Zabadani und zogen nach Bludan«.


Bludan 2012, Frühling – Das Leben in Bludan
»Meine Familie blieb vorerst in Bludan. Nachdem wir wieder zwei Tage im Hotel übernachteten, fand der Freund meines Vaters ein leeres Gebäude. Das Haus mieteten wir für 7000 Syrian Pounds (3,50 Euro) an. Meine Mutter verdient als Lehrerin etwa 30000 Syrian Pounds. Umgerechnet sind das etwa 15 Euro. Es ist nicht viel, aber leben kann man davon. Mein Vater konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben, was ihn traurig stimmte. Er hatte bei Gericht einen achtbaren Beruf gehabt. Aber Baba’s Arbeitsplatz war durch die Bomben zerstört worden und existierte schlicht nicht mehr. Er versucht, so gut es geht seinen Job auszuüben. Nur selten hat er Kunden.
Danach mieteten wir ein anderes Haus – dieses Mal über der Erde – im Erdgeschoss. Meine Eltern leben heute noch dort. Die Wohnung ist 60 Quadratmeter groß und hat zwei Wohnräume, eine Küche, ein Bad und einen Balkon«.


Bludan 2013 – Die Schule
»Die Menschen in Bludan versammelten sich nicht für Demonstrationen. So war der Ort gegenüber den revolutionäreren Bewohnern Zabadanis relativ sicher. Die Bewohner aus Bludan behaupteten, sie seien für Al-Assad. Aber das waren sie nicht. Sie logen aus lauter Angst, um nicht ebenso wie der Nachbarort Zabadani zerbombt zu werden. Die Bludaner wollten damit nur ihre Kinder schützen. Sie lügen bis heute.
Wir Kinder und Jugendlichen gingen in Bludan zur Schule. Dort lief der Unterricht relativ normal ab. Regelmäßig aber kamen Soldaten aus al-Assads Armee, um die Familien aus Zabadani zu checken. Dann rannten wir Kinder aus der Schule und versteckten uns. Die Lehrer deckten uns immer. Das Ganze passierte nicht so oft – nur etwa zwei bis drei Mal pro Woche.
Einmal nahmen al-Assads Soldaten alle Lehrer gewaltvoll mit, welche zuvor in Zabadani unterrichtet hatten. Die Soldaten brachten unsere Pädagogen an ihren Standort, der mit einer Kaserne vergleichbar ist. Dort folterten sie unsere Lehrer. Dabei brachen sie ihnen unter anderem sämtliche Knochen an Armen und Beinen. Ein Lehrer erzählte mir später genau, wie er gefoltert worden war. Die Soldaten hatten ihn im Freien an einen Baum gefesselt. Danach schlugen sie auf ihn ein. Dazu benutzten sie die Rückseite ihrer Gewehre und Stöcke. Zum Spaß wurden die gefesselten Lehrer auch mit Steinen beworfen. Ein beliebter Weg, um Menschen zu foltern, ist die Zigarette. So drücken sie zudem zahlreiche glühende Zigaretten auf der Haut ihrer Opfer aus.
Unsere Lehrer kamen nach ein paar Tagen wieder nach Bludan zurück. Mehrere Wochen lang waren sie außer Gefecht. Ein Lehrer kann inzwischen zwar wieder arbeiten, aber er wird wohl sein Leben lang humpeln.




Madaya 2013 – Folter für ein rotes Shirt  
»Der Vater meiner Mutter lebte damals in Madaya. Wir besuchten ihn und blieben dort für 15 Tage. Es gab in Madaya einen Laden mit sehr günstigen Klamotten. Meine Mutter schickte mich hin, damit ich mir etwas Neues kaufen konnte. Mein Cousin, zwei Jahre jünger als ich, begleitete mich. Wir schauten uns um, probierten und kauften verschiedene Klamotten. Ein rotes T-Shirt fiel mir besonders auf. Ich stand im Laden, zog mein T-Shirt aus und das Rote an. Gerade als ich mein T-Shirt auszog sah ich, wie zwei Männer in der Tür standen und mich beobachteten. Sie trugen lange Haare, lange Bärte, lange weiße Kutten. Und sie hatten ihre Augenlider mit schwarzen Eyeliner nachgezogen. Einen Schnauzbart hatten sie nicht, aber dafür blitzten sehr schlechte gelbe Zähne aus ihrem Mund.
Ich wusste gleich, die waren vom Daesh (IS-Kämpfer). Komischer Weise spürte ich in diesem Moment keine Angst. Die Beiden sagten mir grob, dass ich mein T-Shirt nicht im Laden ausziehen durfte. Das sei nicht „haram“ – und eine schwere Sünde. Zum Umziehen hätte ich in die Umkleidekabine gehen sollen.
Ich wusste, dass der Daesh bei ähnlichen Vergehen den Leuten etwa eine Hand abschlägt. Manche Menschen werden auch einfach geschlagen oder gleich geköpft. Die Männer sagten, ich sollte mitkommen. Ich wollte nicht. Dann holten sie mich und trugen mich, einer rechts und einer links, zu ihrem Auto. Es fuhren einen schwarzer Hyundai Avanti mit schwarz getöntem Glas, schwarzen Rädern und er trug die typisch schwarze Flagge des Daesh. Die beiden Daesh stülpten mir ein T-Shirt über den Kopf, so dass ich nichts sehen konnte. Meine Arme fesselten sie mit einem Klettband nach hinten. In diesem Moment wurde ich schwach und gab innerlich auf. Mein Herz raste. Ich hörte nur noch Stimmen, sah aber nichts. Der Wagen fuhr los. Ich wollte gar nicht ankommen, weil ich Angst davor hatte, vor dem, was mit mir geschehen könnte.
Als der Wagen hielt, zogen sie mir die das Tuch vom Kopf. Wir waren an einem großen Gebäude angekommen. Eine andere Person hatten sie auch gefangen, merkte ich in diesem Moment. Sie schubsten mich vor sich her. Ich musste in das Gebäude gehen. Zuerst ging es die Treppe hinunter. Dort war ein großer Raum mit einer Menge an Daesh-Kämpfern.
Unter den Daesh waren Syrer, Afghanen und Pakistani, aber auch blonde Syrer, Englander mit blauen Augen, Franzosen hörte ich sprechen und ein paar kamen aus Russland. Der Boss von allen war ein Afghane. Es waren hauptsächlich Männer, aber etwa fünf Prozent Frauen waren ebenfalls darunter. Ich hörte die Sprachen Arabisch, Farsi und Englisch. Viele der Daesh versuchten Hocharabisch zu sprechen, hatten aber eindeutig Akzente aus Europa. Ein großer Teil sprach Farsi (persisch).
Ich sah viele Leute um mich herum stehen. Sie schienen normal zu sein, wie ich. Aber ich traute mich nicht mit ihnen zu sprechen. Vielleicht waren sie doch vom Daesh und sollten spitzeln. Männer und Frauen hörte ich aus den anderen Räumen schreien. Irgendwann schlief ich erschöpft am Boden ein.

Am nächsten Tag kamen sie dann, um mich zu holen. Fünf Kerle waren es. Sie schleppten mich in ein Zimmer. Es hingen Lederschnüre von der Decke herunter. An den Enden baumelten Lederhandschellen. Damit fesselten sie meine Handgelenke nach oben und auch die Füße banden sie mir. Ich trug kein Shirt mehr. Bald schnitten mir mindestens zehn Peitschenschläge in meinem Rücken. Es war seltsam, dass ich nach dem zehnten Schlag fast nichts mehr zu fühlen schien. Ich dachte, sie peitschen mich jetzt so lange aus, bis ich sterbe. Dann brach mein Körper in zusammen und ich wurde bewusstlos. Sie schütteten mir aber kaltes Wasser in mein Gesicht, damit ich wieder zu mir kam.

Diese Peitschenhiebe muss man sich so vorstellen: Die Strang der Peitsche war sehr lang. Am Ende wurde er immer dünner und schloss mit zwei ganz schmalen Seilen ab. Damit hatte er Ähnlichkeit mit einer Schlangenzunge. Wenn die Peitsche auf den Rücken gerichtet wurde, schlug sie immer zuerst über der Schulter auf dem Oberkörper ein. Dabei wurde jedes Mal ein kleines Stück Haut mit ausgerissen.

Sie warfen mich grob in einen Raum und sagten, sie wollten am nächsten Tag wieder mit mir »sprechen«. Die Soldaten des Daesh wussten nicht einmal, warum ich da war. Sie sind komplett dumm und nur gewalttätig. Zu trinken bekamen wir nur schmutziges Wasser mit Sand und Erde. Nur manchmal bekamen wir eine Kartoffel oder ein hartgekochtes Eis zu essen.
Die Folter wiederholten diese Idioten täglich über zwei Wochen hinweg. Einen Tag wurde ich gegen die Beine geschlagen. An anderen Tagen mit einem Stock gegen den Oberkörper. Manchmal malträtierten sie mich nur mit Tritten und Fäusten. Oft lachten sie dabei, schienen Spaß mit mir zu haben. Wurde einer dieser Daesh müde vom Schlagen, gab er die Peitsche oder den Stock einem Freund. Der drosch dann weiter auf mich ein.
Nach 14 Tagen Wochen kamen sie unverhofft, um mir mein altes T-Shirt über den Kopf zu binden. Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten. Sie schubsten mich in ein Auto und fuhren mich zurück nach Madaya. Dann sagten sie, ich könne gehen. Davor bekam ich von ihnen eine Tasche mit meinem neuen roten T-Shirt in die Hand gedrückt. Ist das nicht verrückt?

Eine halbe Stunde hätte der Weg normaler Weise bis zu meinen Großeltern gedauert. Ich brauchte zwei Stunden dafür. Meine Familie weinte vor Glück, dass ich noch lebte. Mein Cousin hatte es geschildert, dass mich der Daesh geholt hatte. Ich wurde zu einem Arzt gebracht. Der checkte mein Blut, Augen, Haare, Haut und das Herz. Mein Zuckerwert war besonders niedrig. Durch das Dreckwasser, das es zu trinken gab, habe ich bis heute gesundheitliche Probleme.
Bestimmt ein Jahr konnte man die Narben auf meinem Rücken deutlich sehen. Das rote T-Shirt habe ich noch immer – und werde es mein Leben lang behalten. Das Shirt hat für mich gute und schlechte Erinnerungen. Zum einen hatte mich der Daesh geholt und ich hatte überlebt. Aber ich trug dasselbe T-Shirt auch, als ich mich Monate später in Deutschland in meine heutige Freundin verliebte«.


Madaya, Herbst 2013 – Die Hinrichtung
»Unfreiwillig wurde ich Beobachter der folgenden Geschichte. Es geschah in der nächsten Umgebung beim Haus meiner Großeltern in Madaya. Dort gibt es einen Kreisverkehr. Die Irren vom Daesh kamen immer an diesen Ort, um dort im Kreisverkehr ihre Opfer zu töten. Wieder einmal kamen sie mit dem Auto an. Sie hatten einen schwarzen Kia Rio gefahren. Es waren drei Daesh darin, die eine verzweifelt aussehende Person mit sich führten. Es war ein Mann und er trug orangene Kleidung. Diese Kleidung bedeutet, dass er sterben wird. Seine Arme waren nach hinten auf dem Rücken gebunden. Dann ging es wahnsinnig schnell. Sie standen noch im Kreisverkehr, hielten aber seinen Oberkörper auf die Straße hinaus. Ein Daesh kniete neben den armen Tropf, hielt seinen Kopf an den Haaren fest nach hinten und schnitt ihm mit einem kurzen Messer die Kehle und schließlich den ganzen Hals durch. Obwohl das Messer so kurz war, wurde er geköpft.
Den Leichnam ließen die Daesh-Kerle an Ort und Stelle liegen und verschwanden. Nach einer Weile kamen Angehörige, um das Opfer zu bergen und später zu bestatten«.   



 
Madaya, Ende 2013 – Das eigene Grab
»Mama und meine Geschwister besuchten einmal wieder die Großeltern in Madaya. Etwa 10000 Menschen lebten zu dieser Zeit dort. Meine Mutter hatte fünf Brüder. Einer wurde durch den Einschlag einer Bombe in seinem Laden in Zabadani komplett zerfetzt, aber das ist eine andere Geschichte. Somit habe ich mütterlicherseits noch vier Onkels.
Wir waren zu viert unterwegs auf der Straße, um Lebensmittel einzukaufen. Ein Onkel, ein Cousin, eine Bekannte und ich. Wir sahen eine Menschenansammlung und gingen hinzu, um zu sehen, was los war. Der Daesh hatte sich einen jungen Mann vorgeknöpft, der war etwa 25 Jahre alt. Die Leute sagten, er gehöre zum Team des Reinigungspersonals einer städtischen Einrichtung. Es wurde gemunkelt, dass er für die Armee al-Assads spionieren würde. Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte.
Der Daesh war mit bestimmt 50 oder 60 Leuten stark vertreten. Unter Hohn befahlen sie dem armen Kerl, ein Grab ausheben. Sein Grab. Sie sagten ihm auch, dass er hier sterben würde. Der Arbeiter tat mir leid. Er war von Bewaffneten umstellt und hatte keine Chance. Er blickte um sich – und sah lauter Monster. Manchmal weinte er, manchmal schrie er und rief: „Ihr nehmt den Falschen. Ich habe doch nichts verbrochen. Ich arbeite nur hier“. Die Daesh spielten mit seinen Gefühlen der Todesangst. Nach einer Weile befielen sie dem verzweifelten Arbeiter, sich in das Grab zu liegen. Er sollte auszuprobieren, ob es groß genug sei. Das war es. Dann musste er sich an der kurzen Seite vor das Grab hocken. Er durfte nur nach unten blicken. Diese Verbrecher hatten ein großes Hackmesser mit einer breiten Klinge dabei. Die Metzger benutzen ähnliche Messer. Dieses war aber insgesamt länger als ein Meter – und nur zum Töten bestimmt. Mit Wucht schlug ihm einer das Hackmesser in die Mitte seines Rückens, mit der Klinge der Wirbelsäule entlang. Danach zog der Mörder die blutverschmierte Klinge wieder heraus. Der Rücken des Arbeiters war komplett geöffnet. Man sah das Fleisch, die Knochen, die Sehnen, das Blut. Der Arbeiter lebte aber noch und saß trotz des Hiebs noch eine kurze Zeit in der Hocke. Irgendwann kickten sie ihn mit den Füßen in das Loch hinein. Zwei Typen begannen mit Maschinengewehren der Russen, der Marke AK-47, auf ihn zu schießen. Endlich konnte er sterben. Etwa eine Minute hatte er zum Sterben gebraucht. Danach schaufelten die Daesh-Leute das Grab zu, riefen Allahu Akbar und lachten dabei.  
Sie sagten, jeder der Kontakt mit der Army hätte, würde auf diese Weise sterben. Es war eine Warnung die lautete: „Sei nicht gegen uns, sonst bist du der Nächste den wir töten“.
Unser Onkel ordnete an, dass wir sofort nach Hause gingen. Man weiß nie, wann die Gefahr kommt. Jederzeit kann ein Auto angefahren kommen und bist fällig«.



Bludan, 2014 - al-Assads Soldaten und der Daesh
»Ende 2014 kamen rund 10000 Terroristen des ISIS in unsere Region nach Bludan. Wir bezeichnen die IS-Kämpfer abwertend nur den Daesh“. Das sind Mörder, das ist kein Staat.
Bludan liegt im Gebirge an der Grenze zu Libanon. Der Ort ist von drei Seiten von al-Assads Armee umzingelt. Auf der vierten Seite sind die höheren Berge. Dort verstecken sich rund 10000 dieser gefährlichen Esel (Daesh). Problematisch für Bludan ist, dass al-Assads Armee auf den Daesh schießt und der Daesh wiederum auf die Army. Bludan steckt dazwischen und bekommt so eine ganze Menge an Bomben und Schüssen ab. Okay, Bomben fallen nicht so oft. Nur etwa zwei oder drei Mal pro Woche. Erschossene Soldaten al-Assads werden ständig durch neue ersetzt.
Ich hasse niemanden aus der Armee von Alal-Assad, denn die Soldaten werden zum Kampf gezwungen. Wollen sie aus der Armee ausbrechen, werden sie kurzerhand als Fahnenflüchtige selbst erschossen. So gut wie niemand ist freiwillig in der Armee dieses Präsidenten«.




Bludan, 2014  
Al-Assads Soldaten und der Daesh
»Ende 2014 kamen rund 10000 Terroristen des ISIS in unsere Region nach Bludan. Wir bezeichnen die IS-Kämpfer abwertend nur den Daesh“. Das sind Mörder, das ist kein Staat.
Bludan liegt im Gebirge an der Grenze zu Libanon. Der Ort ist von drei Seiten von al-Assads Armee umzingelt. Auf der vierten Seite sind die höheren Berge. Dort verstecken sich rund 10000 dieser gefährlichen Esel (Daesh). Problematisch für Bludan ist, dass al-Assads Armee auf den Daesh schießt und der Daesh wiederum auf die Army. Bludan steckt dazwischen und bekommt so eine ganze Menge an Bomben und Schüssen ab. Okay, Bomben fallen nicht so oft. Nur etwa zwei oder drei Mal pro Woche. Erschossene Soldaten al-Assads werden ständig durch neue ersetzt.
Ich hasse niemanden aus der Armee von Alal-Assad, denn die Soldaten werden zum Kampf gezwungen. Wollen sie aus der Armee ausbrechen, werden sie kurzerhand als Fahnenflüchtige selbst erschossen. So gut wie niemand ist freiwillig in der Armee dieses Präsidenten«.




STUDIUM IN DAMASKUS

Ende 2014
»Während wir den Daesh in Bludans Bergen hatten, ging auch meine Schulzeit zu Ende. Meine Eltern schickten mich nach Damaskus an die Universität. Ich studierte mit großem Eifer Elektrotechnik und Kommunikation, denn ich finde das Ingenieurwesen total spannend. Ich bekam ein kleines Zimmer in der Nähe meiner Universität. Im ersten Jahr erarbeitete ich den Stoff aus elf Büchern. Mit drei Büchern hatte ich zu kämpfen, aber mir blieb noch genügend Zeit um sie zu lernen. Mein Durchschnitt an der Uni war sehr gut«.


Zabadani/Bludan, November 2015
»Die Schiiten aus dem Libanon kamen mit ihrer Armee an, den Hisbollah, nach Zabadani. Al-Assad hatte den Nachbarstaat um Unterstützung gebeten. Der Anführer der Hisbollah heißt übrigens Hassan Nsrallah. Nrsallah willigte ein und sendete 2000 Soldaten zu uns nach Syrien. Die Hisbollah sind wahnsinnig erfahrene Soldaten. Im Februar 2016 schafften es die Hisbollah konnten nach Zabadani eindringen. Dort kämpften sie gegen die Freiarmee – die zum ersten Mal richtig bitter verlor«.


Damaskus, November 2015
»In der Nähe von Damaskus treibt sich auch der Daesh herum. Diese Hunde begannen Bomben auf die Regierungsgebäude zu werfen. Ganz in der Nähe meiner Universität ist ein besonders wichtiges Lager für Generäle und Soldaten. Der Daesh wollte eines Tages auch dieses Gebäude bebomben.
Mit ein paar Kommilitonen war ich gerade zusammen auf dem Weg in die Uni. Wir hatten an diesem Tag Examen.
Da hörte ich plötzlich die Bomben und warf mich schlagartig auf den Boden. Das ist eine normale reflexartige Reaktion. Hörst du eine Bombe, dann wirfst Du Dich automatisch auf die Erde.
Dass in Damaskus Bomben fielen, wollte ich meinen Eltern nie erzählen. Baba und Mama waren relaxt: Sie dachten, ich sei an der Uni an einem sicheren Ort. Das Gute war, dass es in Bludan kaum Strom gab. Es war purer Zufall, dass mein Vater genau an diesem Tag den Generator startete, damit er Radio hören konnte. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt berichteten sie in den Nachrichten von dem Bombenanschlag auf genau meine Universität. Erschrocken darüber riefen mich meine Eltern sofort an. Natürlich wollten sie wissen, ob alles in Ordnung ist.
Nichts war mehr in Ordnung.
Was war passiert?

Es war die erste große Bombe die ich in Damaskus erlebte. Nachdem ich mich aus der Schutzposition vom Boden erhob, sah ich diese riesige Staubwolke sah. Und vor allem roch ich die Bombe. Nach einer Weile erkannte ich durch den Staub hindurch einen meiner Kommilitonen auf dem Boden liegen. Er war bewusstlos und sah nicht gut aus. Wir versuchten den Freund hochzuheben, um ihn in das Auto eines Professors zu tragen. Als wir ihn anhoben, löste sich aber seine hintere Schädelplatte. Sein Gehirn schlackerte aus seinem Schädel hinaus auf den Boden. Da war uns klar, dass er nicht mehr zu retten waren. So trugen wir den Leichnam ins Auto, damit er von den Angehörigen wenigstens bestattet werden konnte.

Dann hörten wir eine zweite Bombe und warfen uns wieder auf den Boden. Die Bombe flog direkt über unsere Köpfe hinweg, bevor sie einschlug. Manchmal kann ich die Bomben fühlen. Wieder hatte es einen Mitstudenten böse erwischt. Aber er hatte zum Glück nur eine üble Wunde abbekommen. Das mittlere Teil eines Geschosses hatte seinen Arm getroffen und war darin stecken geblieben. Wir trugen den Studenten in ein privates Auto, das ihn ins Krankenhaus fahren sollte.

Nach etwa einer Stunde hörten wir eine dritte Bombe. Die schlug am Ende des Universitätsgebäudes  ein und es gab viele Verletzte. Viele Studenten wollten helfen, waren aber erstarrt vom Anblick. Das ist verständlich, denn niemand sieht gerne einen fast toten Menschen – oder eben Tote. Ein Student war so verwundet, dass sein Blut den ganzen Boden zu tränken schien. Ein Geschoss hatte den armen Kerl im Bauch getroffen. Viele kleine Metallteile steckten überall in der Haut über seinen ganzen Körper hinweg. Mist! Wir hatten keine Autos mehr zur Verfügung, die ihn ins Krankenhaus fahren konnten. Ich trug mit anderen den Studenten einfach mitten auf die Straße. Seine Innereien quollen dabei aus einer größeren Bauchwunde heraus. Ein Fahrzeug fuhr vorbei und das stoppten wir. Dem Fahrer ordneten wir an, dass er den Mann ins Krankenhaus fahren müsse«.





Syrien, Dezember 2015 – Baba schickt uns weg
»Mein Vater rief bald an und befahl mir, nach Europa zu gehen. Meine Eltern waren nach den Bomben an der Uni Damaskus sehr erschrocken. Baba sagte, er schickt mir Geld für die Reise. Ich brauchte noch einen Reisepass und musste der Armee dafür ein Pfand von 300 US-Dollar bezahlen. Eine Menge Geld ist das. Ich arbeitete noch sieben Tage lang nur, um mir den syrischen Pass anfertigen lassen zu können.
Mein Vater wollte, dass ich meinen jüngeren Bruder Ali (Name geändert) zu mir und mit nach Europa nehme. Ich habe noch eine Schwester. Aber die Gefahr für Mädchen ist in meiner Region nicht ganz so groß.
Es war gar nicht einfach, meinen Bruder von Bludan nach Damaskus zu bringen. Schließlich mussten 14 bewachte Checkpoints verschiedener Kämpfer und Soldaten überwunden werden. Baba holte sich aber Rat bei seinem Bruder, einem Arzt. Dieser schrieb ein Attest für Ali. Die erfundene Geschichte war, dass er eine schwere Vergiftung habe und dringend ins Krankenhaus nach Damaskus müsse. Nur so konnte mein Bruder die vielen Checkpoints überwinden.
Als Ali endlich bei mir in Damaskus ankam, hatte er das Gold meiner Mutter dabei. Das Gold sollten wir in Damaskus verkaufen, um genug Bargeld für die Flucht zu haben. Baba hatte für uns sogar sein Auto, sein letztes Heiligtum, verkauft.

Wir bekamen schließlich unsere Passports ausgehändigt. Bereits eine Stunde später waren wir im Auto unterwegs nach Libanon. Wir erreichten den Airport »Rafek al Harere« in Beirut. Sechs Stunden warteten wir dort auf unseren Flug. Unser Flugzeug war nach all der Zeit des Krieges das vorerst Letzte, das von Libanon in die Türkei flog. Und ich war der letzte Passagier, der in die Maschine einstieg, bevor die Tür schloss. Nach zwei Stunden landeten wir in Adana. Wir bekamen sogar noch einen Stempel in den Passport, weil wir auf richtig legalem Weg gekommen waren. Nach uns war diese Fluchtmöglichkeit dicht«.


Januar 2016 – Die Türkei
»Ich hatte nur einen Freund in der Türkei. Den kontaktierte ich und bat ihn, um Unterstützung. Wir blieben 15 Tage lange in einem Apartment in Istanbul. Diese Zeit hatten wir gebraucht, um einen der türkischen Schlepper zu finden, der uns über die Ägäis bringen konnte. Wir fanden schließlich einen ersten Schlepper, der uns sechs Stunden weit fuhr. Endlich hatten wir das Meer erreicht. Für die Überfahrt nach Griechenland sollten wir 700 US-Dollar bezahlen. Der Schlepper sagte uns, das Boot sei neun Meter lang, 40 Personen würden damit fahren. Der Schlepper hatte gelogen. Das Boot war aber nur sieben Meter lang und wir waren 65 Personen. Die Walnussschale war viel zu klein und mit Kriegsflüchtlingen komplett überladen.
Unsere Gruppe protestierte, aber der Schlepper zog seine Waffe und befahl uns ins Boot zu steigen. Ich traute mich nicht mehr zu protestieren, denn ich wollte meinen kleinen Bruder schützen. Aber vielleicht waren wir auch erfolgreich?«  


Januar 2016 – Ägäis: Die türkische Seepolizei
»Wir schafften es bis in die Mitte der Ägäis. Da kam die Seepolizei angefahren. Sie sahen unser Boot und umkreiste es einige Minuten. Plötzlich fuhr die Seewacht mit Absicht so dicht an unser kleines Boot, dass unglaublich viel Wasser hinein schwappte.
Hilfe! Unser Boot begann zu sinken. Wer alleine war, der sprang ins Wasser und begann zu schwimmen. Aber im Boot befanden sich auch Familien mit kleinen Kindern, Babies darunter. Wir jungen Männer versuchten zu helfen. Ich sprang in das Wasser und schrie einer Mutter zu: „Gib mir dein Kind“. Sie reichte mir den kleinen Buben voller Angst ins Wasser. Ich schwamm und hielt das etwa 18 Monate alte Kind verzweifelt nach oben. Wo ich die ganze Kraft her hatte, weiß ich nicht mehr.
Nach einer Weile kam dasselbe Boot der Seepolizei wieder. In der Zwischenzeit waren alle Flüchtlinge im Wasser gelandet. Wir hatten unglaublich Angst. Ausgerechnet dieselbe Seepolizei, die unser Boot zum Kentern gebracht hatte, war gekommen – um uns zu retten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Zuerst wollten sie uns versenken, töten. Und danach retten?
Bevor uns die türkische Seepolizei aus der Ägäis herauszog, schossen sie zuerst noch eine Menge Fotos von uns im Wasser. Viele drohten zu ertrinken. Sie schossen Fotos davon, wie wir zwischen den Wellen zappelten, Angst hatten, wie Kinder immer wieder mit dem Kopf unter Wasser sanken. Dann halfen sie uns aus dem Wasser heraus. Die Seepolizei zeigte sich sehr erbost. Sobald wir an Bord waren schlugen uns die „Helfer“ hart. Auch den Kindern ab fünf Jahren erging es nicht besser. Viele weinten verzweifelt. Auf dem türkischen Festland wurden zur Polizeistation gebracht. Dort wurden wir fotografiert und nach einer Weile einfach entlassen«.



Januar 2016 – Ägäis: Zweiter Versuch
»Unsere Gruppe blieb zusammen. Nach dem ersten Versuch gingen wir in einen Ort namens Cesme. Von Cesme aus versuchten wir nach Chios zu kommen. Aber die Polizei erwischte uns noch am Strand. Wir mussten wieder in der Wache antreten, wurden fotografiert und entlassen«


Januar 2016 – Ägäis: Dritter Versuch
»Alle in der Gruppe waren moralisch ziemlich am Ende. Trotzdem versuchten wir es ein drittes Mal die Ägäis zu überwinden. Dieses Mal wollten wir es von Izmir aus nach Mytilene auf die Insel Lesbos schaffen. Der Deal mit dem Schlepper war, wir waren 40 Leute und das Boot sollte neun Meter lang sein. Am Ende war das Boot aber nur fünf Meter lang. Diese Fahrt hätte wieder 650 US-Dollar gekostet. Zur Abmachung gehörte auch, dass der Schlepper das Geld erst dann bekommt, wenn wir sicher in Griechenland angekommen sind.
Als wir sahen, dass das Boot nur fünf Meter lang war, sträubten sich alle dagegen. Der Schlepper fackelte nicht lange und zog eine Waffe. Wir waren psychisch völlig am Ende und sagten ihm, er solle uns in dem Fall lieber gleich erschießen. Wir wollten in so einem Boot nicht in der Mitte der kalten See ertrinken. Ich war bereit zu sterben und es war mir total Ernst. Ich war völlig gefühllos und fühlte mich schon tot. Vermutlich war das so, weil ich in meinem Leben bereits so viel tote Menschen gesehen hatte. Zum Sterben war ich bereit. Aber bitte nicht mitten im eiskalten Meer. Bitte nicht mit den vielen Kindern und nach einem stundenlangen Kampf gegen die Wellen.

Als der Schlepper sah, dass wir gar keine Angst vor dem Tod hatten, kam eine Reaktion, die kann ich mir bis heute nicht richtig erklären. Plötzlich rannte der Schlepper davon und rief, er sei nicht verantwortlich für unser Leben. Das viel zu kleine Boot löste sich derweil vom Ufer und fuhr davon. Ohne uns.

Wir rannten vom Strand weg und kamen in einen Wald. Durch diesen liefen wir die ganze Nacht hindurch, um möglichst eine größere Straße zu erreichen. Es war Januar und bitterkalt, minus fünf Grad hatte es vielleicht. Wir hatten für die Überfahrt mit dem Boot kaum Kleidung angezogen. Stattdessen trugen wir noch immer unsere orangenen Rettungswesten. Die wärmten und wenigstens ein bisschen. Erst gegen vier Uhr kamen wir an einer Straße an.
Das was jetzt kommt, das glaubt bestimmt niemand. Aber als wir an der Straße ankamen, trafen wir genau den türkischen Schlepper wieder, der uns das dritte, viel zu kleine Boot andrehen wollte. Dieser Mensch kam mit seinem Auto daher. Als er uns entdeckte wollte er in unsere Gruppe rasen. Er wollte so viel wie möglich Leute von uns ermorden. Wir hatten doch Kinder dabei.
Der Schlepper fuhr mit seinem Auto einen Freund an. Der war erst 16 Jahre alt, so jung wie mein Bruder Ali. Durch den Aufprall brach er ihm das Bein. Dann stieg er aus, schlug auf den Jungen ein und zog ein Messer. Aber ein anderer Mitflüchtling schritt ein. Er war kräftiger Kerl und schaffte es, dass der Schlepper von dem Jungen abließ. Er nahm im das Messer ab und warf es weit weg. Der Schlepper verzog sich danach wütend.

Plötzlich stand die Polizei da und ehe wir uns recht versahen, wurden wir in ein Revier gebracht. Wir trugen noch immer die Rettungswesten und waren deshalb leicht zu erkennen. Zwei Stunden hockten wir in der Gefängniszelle. Dann wurden wir wieder einmal fotografiert und nach einer Weile ließ man uns gehen«.




Januar 2016 – Ägäis: Vierter Versuch
»Einen vierten Versuch wollte ich nicht mehr riskieren, um über die Ägäis zu kommen. Sollte ich etwa in der See ertrinken? Oder von der Polizei oder der Mafia erschossen werden? Ich änderte meine Meinung nach Europa zu kommen und resignierte komplett. Aber mein Freund war emotional sehr stark. Er ermutigte mich, die Bootsfahrt noch einmal zu versuchen. Wir fanden einen vierten Schlepper.
Wenn wir überleben?
Dann okay.
Wir hatten sowieso kein Zuhause mehr.
Wir versuchten wieder dieselbe Route, um nach Mytilene/Lesbos zu kommen. Das Meer war an diesem Tag unglaublich ruhig. Der Schlepper fragte noch, ob wir einen Fahrer brauchen.
Ich weiß nicht, woher ich dann plötzlich diese Kraft für das Kommende hatte. Ein Freund von uns übernahm die Rolle des Fahrers. Dann gaben wir gemeinsam Befehle. Wir bauten im Boot eine Festung. Die Kinder sollten in der Mitte sitzen. Dann kamen die Frauen und von außen sollten sie die Männer beschützen. Ich sagte zu den Leuten, dass nur der GPS-Mann und der Fahrer sprechen dürfen – ansonsten würde ich jeden eigenhändig ins Wasser werfen.
Das wirkte. Keiner sprach. Das Boot startete.
Im ersten Moment hatte ich dasselbe Gefühl wie beim ersten Mal. Ich dachte, nach zwei Metern werden wir sinken. Durch meine Erfahrungen spürte ich eine furchbare Angst. Mein Adrenalin war auf Höchststufe und ich war zu allem bereit. Zum Sterben und zum Überleben.
Aber wir hatten viel Glück. Wir erreichten Lesbos. Wie durch ein Wunder blieben sogar meine Socken trocken – zumindest bis ich an der Küste von Lesbos aus dem Boot stieg.

Wir wurden von Volunteers empfangen. Sie halfen uns aus den Booten. Ich dachte, wir sind im Paradies. Wir wussten, dass wir jetzt in Griechenland waren. Ich stand auf der Erde, aber ich fühlte nach wie vor das Schwanken, als ob ich auf der See wäre. Geistig und körperlich völlig erschöpft lagen bald 40 Menschen auf der Erde, sprachen kein Wort und starrten nur gedankenverloren in den Himmel. Volunteers einer Humanity Organisation brachten uns in ein Camp. Wir bekamen Schuhe, Kleidung, heißen Tee und Essen. Wir bekamen sogar Jacken. Wir kamen in ein Zelt. Dort blieben wir für zwei Tage«.




Februar 2016 – Deutschland
»Am 1. Februar waren wir in München. Dort wurden wir vom deutschen Militär registriert und geprüft. Dort übernachteten wir bis zum nächsten Morgen. Mein Freund wurde von einem deutschen Soldaten Gesicht an Gesicht angebrüllt. Der deutsche Soldat schrie auf englisch: »Why you are here? Go back and fight for your country. We have a lot of refugees here. We don’t need more!«.
Mein Freund, der immer so stark war, begann zu weinen. Er bekam ein Ticket in die Hand gedrückt, um nach Österreich zurück zu fahren. Ich glaube heute, dass das einer dieser Neonazis aus Deutschland war. Wir Freunde wurden nach all der Zeit auseinander gerissen und fühlten uns sehr verzweifelt.
Ich hatte einen der guten Soldaten bekommen. Vorsichtig fragte ich, ob auch ich zurück nach Österreich gehen sollte. Er schaute mir in die Augen, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, du sollst in Deutschland bleiben. Einerseits war ich schrecklich traurig darüber, dass ich meinen Freund gehen lassen musste. Andererseits war ich froh, dass ich mit Ali Deutschland erreicht hatte. Der nette Soldat sandte uns nach Ellwangen in die Landeserstaufnahme.

Wir blieben nur 15 Tage in Ellwangen. Erstaunlich schnell waren die ganzen Prozeduren und Abläufe fertig . Dann bekamen wir einen Transfer nach Rottweil. Das Sozialamt wies uns in eine Unterkunft in Schenkenzell«.




Das Leben in Deutschland
»Wir haben kein Asyl bekommen, dafür aber einen subsidiären Status. Ich lerne intensiv Deutsch und bin jetzt für einen Integrationskurs vorgesehen. Inzwischen habe ich eine deutsche Freundin, die fast ausschließlich Deutsch mit mir spricht. Da ich auch fließend englisch spreche, fällt mir die Sprache relativ leicht. Mein Bruder darf in die Schule gehen und macht ebenfalls gute sprachliche Fortschritte. In einer großen Firma durfte ich ein mehrwöchiges Betriebspraktikum absolvieren und erhielt ein gutes Zertifikat. Um Deutschland etwas Sinnvolles zurückgeben zu können, engagiere ich mich ehrenamtlich in einer Hilfsorganisation. Ich hoffe darauf, mein Studium der Elektrotechnik und Kommunikation in Englisch fortsetzen zu können. Falls das nicht klappt, möchte ich nächstes Jahr eine Ausbildung in der Elektrotechnik beginnen«.


Yazan, August 2016, Deutschland   

Yazan ist Bomben und Terror entkommen und in Sicherheit.


Siehe auch: Yazan's Geschichte im Schwarzwälder Boten vom 20.08.2016

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